Zeitgemäße Betrachtungen II

Über das Warten - Zur Untersuchung eines Alltagsphänomens (Text von Thomas Opitz)




Denn der Raum des Geistes, dort wo er seine Flügel öffnen kann, das ist die Stille.
A. de Saint-Exupéry



Dresden, im März 2021

K. wartet.
Er selbst würde sagen, er erwarte etwas, mit Unbehagen, mit Ungeduld. Gestern war ihm an sich ein Schwächegefühl aufgefallen, im Hals spürte er ein leichtes Kratzen, pulsierenden Schmerz hinter den Augäpfeln. Als informierter Mensch deutete er die Symptome als den Beginn einer Infektion, naheliegend mit dem Coronavirus, über dessen rasante Ausbreitung seit Monaten in allen ihm zugänglichen Medien hochemotional berichtet wird.
So hatte er, stets um Gewissheit bemüht, unverzüglich einen Arzt aufgesucht, der ihm in Schutzkleidung und Maske wie ein Phantom entgegengetreten war und wortlos-ungerührt einen langen Abstrichtupfer tief in seiner Nase versenkte, um das für einen Test benötigte Sekret zu gewinnen. Während er noch überlegte, wie er diese Erfahrung einordnen sollte, fand er sich schon auf der Straße wieder, versehen mit dem eindringlichen Gebot, sich sofort nach Hause zu begeben und dort zu verbleiben, bis man ihn über sein Untersuchungsergebnis und dessen weitere Konsequenzen informieren würde. Seitdem wartet er…

Auch S. wartet, schweigend. Er steht seit Beginn der Morgendämmerung an der Elbe, am Rande eines kleinen Hafenbeckens. Die Verwandlung des Himmels hat er wahrgenommen, nachtfarbene Wolken kommen und ziehen gesehen, das Zwitschern der erwachenden Vögel gehört und die aufsteigende Kälte in den Knochen gefühlt. Sein Blick ist auf die dünne Spitze einer Angelrute gerichtet, deren Zucken ihm nicht entgehen darf, sobald sich die erhoffte Beute am Köder labt. Gestern war er hier, auch am Morgen davor – beide Male „erfolglos“…

Anders wartet C., seit Jahren schon. Sie lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Vorstadtwohnung, die beiden Kinder sind längst aus dem Haus, wohnen in der Ferne und arbeiten viel. Sie hat über alle Jahre die Freuden und Lasten des Alltags getragen, zugehört, Trost und Ermutigung gespendet und eigene Wünsche wie selbstverständlich zurückgestellt. Die Einrichtung und Pflege der blitzsauberen Wohnung sind allein ihr Werk; nie hat sie aufgehört, ihrem Gatten die gemeinsame Welt behaglich machen zu wollen. Der aber schweigt, schon immer. Kein Streit, kein tieferes Zerwürfnis, kein Vertrauensbruch belastet die Beziehung. Nur seine Gleichgültigkeit irritiert und sie altert in unerfülltem Verlangen, im lebenslangen Warten auf ein liebevoll-anerkennendes Wort…

Die drei oben angeführten Schilderungen mögen einen Hinweis geben auf die Vielschichtigkeit eines Phänomens, das wir alle hinreichend zu kennen glauben, gefühlsmäßig verstehen und tagtäglich auszubalancieren gezwungen sind. Ich behaupte keinesfalls, in der Bewältigung jener inneren Unruhe, die mich als Wartenden überkommt, besonders fortgeschritten zu sein.

Was aber könnten die Gründe dafür sein, daß dieses gemeinhin als soziale Verhaltensweise erlernte, eingeübte und zumindest tolerierte Warten-Müssen heute überproportional häufig bizarre, unvorhersehbare, zuweilen bedrohliche Reaktionen hervorruft, die auch den gelassensten Beobachter erschrecken und das soziale Klima nicht unerheblich belasten?

Warum könnte es sich lohnen, genauer hinzuschauen und zum Wesen eines Phänomens vorzudringen, daß uns in seiner historischen Wandelbarkeit, inneren Dynamik und soziologischen Bedeutung überrascht? Könnte es sein, das auch am oben behaupteten Wandel einer „Kultur des Wartens“ jene Verschiebungen, Umbewertungen, Deformationen und Brüche sichtbar werden, denen unsere moderne Gesellschaft als Ganze unterworfen ist?

Was wollen wir unter Warten verstehen?

Ich wage in diesem Essay, der als eine Apologie des Wartens gelesen werden soll, die These, daß im Grunde jedem Warten ein kostbares Wahrnehmungspotenzial innewohnt, das es zu sehen, zu ergreifen und als ein Können zu entwickeln gilt, damit sein kultivierter Gebrauch im Sinne eines guten Lebens zur „Lebenskunst“ werden kann. Dieses Potenzial ist etwas im eigentlichen Sinne wert-volles, ein wirklicher Schatz, der gehoben zu werden verdient; seine Bergung ist Aufgabe, möglicher Gewinn sind Gelassenheit, Seinsqualität, Welt- und Selbsterkenntnis.

Damit in Zusammenhang steht meine Ablehnung einer Haltung der „Wartezeitoptimierung“ durch Strategie, Auffüllung, Irreführung und Ablenkung, wie sie im Zeitalter der Verfügbarkeit mobiler Multimedia-Anwendungen und allgegenwärtiger Musikbeschallung inzwischen gängige Praxis geworden ist.

In Anlehnung an meine einleitenden Skizzen verstehe ich das Warten als Vermögen, an einem Ort / in einer Situation zu verweilen, bis diese sich ändert, das heißt auch: dem Eintreffen von etwas (bewußt) entgegenzusehen. Das Warten stellt eine oft beunruhigend und angstvoll besetzte, gelegentlich quälend empfundene, Unterbrechung im Zeitfluss dar, ermöglicht aber gerade hierdurch Empfindung von Gegenwart als „ein Erleben und Erfahren von Zeit“(A.Göttlich).

Wir erleben Warten-Müssen und die damit zusammenhängende Wartezeit häufig als zutiefst „unproduktiv“, fühlen uns in unseren stets auf Erledigung angelegten Lebensvollzügen gehemmt, auf geradezu empörende Weise zur Passivität verurteilt. Zügig produzieren wir ein negatives Spektrum emotionaler Einfärbung, das von Erstarrung bis zu ungehemmter Wut reicht und im sozialen Bereich rasch durch die Witterung einer demütigenden Zurücksetzung beflügelt wird; denn: Über soziales Prestige verfügen heißt eben, nicht warten zu müssen!

Auf den Begriff des Wartens wie auf ein bisher unbewohntes Eiland geworfen, wird es hilfreich sein, den vom gewohnten Zeitfluss abgekoppelten Flecken zunächst denkerisch abzuschreiten und Koordinaten aufzusuchen, an denen wir selbst die Marksteine eigener Bedeutungszuschreibung eingegraben haben, sodann deren Verbindung und die Modi emotionaler Färbung aufzuzeigen, um schließlich und hoffentlich Aussagen Raum geben zu können, die zum affirmativen Quell angemessener Bewertung leiten sollen.

Meist gelangen wir ohne eigentliches Verschulden in die Situation des Wartenden. Unerwartet schließen sich die Schranken vor uns, ein Stau blockiert die Weiterfahrt, zehn Menschen hatten gleich mir die Idee, „nur schnell“ Brötchen beim Bäcker einzukaufen… Eben noch fließende Handlungsvollzüge geraten ins Stocken und … bleiben stehen… Das empfinden wir, mit der heute üblichen Neigung zur Hysterie, als „unglaublich“, „unerhört“, „katastrophal“ und beschreiben damit Qualitäten subjektiven Erlebens wie Handlungsunfähigkeit, die sich, emotional eingefärbt, als Stagnation, Aufschub und Lähmung aufdrängt. Eine andere Wahrnehmung ist Unverfügbarkeit, vorschnell als Verlust und (kränkende) Beschränkung empfunden, desgleichen Unbestimmtheit, mit den emotionalen Begleitern Angst, Ohnmacht und Unruhe. Unter dem Einfluss moderner Gesellschaften und der selbstintegrierten Forderung alternativloser Performance, Identität und Individualisierung jedoch wird der eher realistischen, zuweilen deprimierenden Mischung die explosive Würze durch eine Zuschreibung beigegeben, die sich mit den Begriffen Herausforderung und Konfrontation charakterisieren lässt. Folgerichtig wird Warten-Müssen als „Zeitraub“, „Ausbremsen“, „Kaltstellen“ eingefärbt. Hastig reagierend, werden Drohkulissen errichtet und unkritisch die größten Kaliber in Stellung (und in Einsatz) gebracht. Die Handlungsfolgen dieser „Abwehr“ reichen dann von fruchtlosen emotionalen Aufwallungen und gedankenlosen Verletzungen bis zu ernsthaften und nachhaltigen Störungen des Zusammenlebens, die in Ausgrenzung, Hass und Gewalt ihren Ausdruck finden.

Wie aber sollen wir Situationen begegnen, in denen wir uns verleitet fühlen, eine Abkürzung des unerträglich und unentrinnbar empfundenen „Verweilen-Müssens“ gleichsam herbei zu zwingen, ohne Rücksicht auf etwaige Kosten unseres Handelns?

Gibt es einen Weg hin zu vernunftgeleiteter Betrachtung, zu einer sachlichen, angemessenen Bewertung aus innerer emotionaler Distanz, die sich nicht fortreißen läßt und die Zeit hat, mit Möglichkeiten zu spielen?

Es sei hier von einer Haltung die Rede, die sich an der Erkenntnis eines Unabänderlichen aus- und aufrichtet, besonnen und achtsam urteilt. Diese Haltung kennt und praktiziert ein „Sich-Einlassen“ auf den Moment, ist aufgeschlossen und neugierig allem (auch sich selbst!) gegenüber. So gerüstet, würde dem Tun ein Ertragen entgegengesetzt, Geduld und Demut eingeübt, Vertrauen ermöglicht und Hoffnung geboren werden können. Darüberhinaus dürfte sich bei willig verweilender Betrachtung jene Zeitinsel vermeintlichen Stillstandes zu einer Landschaft eigener Fülle wandeln, in der es Keimendes und Blühendes wie Welkendes und Sterbendes zu entdecken gibt – die uns zum Ort wird, der die Mysterien des Lebens enthält. Hier, vermeintlich zur Passivität verurteilt, könnten wir wirklich „zu uns“ finden, als ein (eigenwilliges) Bauteil des unendlichen Universums. In der Stille, in der Abwesenheit vernebelnder Reizüberflutung, würden wir vielleicht der Idee Raum geben können, daß es oft unsere Urteile sind, die uns auf Abwege und in vermeintlich ausweglose Lagen führen. In den Kehrwassern des Zeitflusses, wo die Muße wohnt, könnten wir uns nähren und aufladen lassen und im kritischen Dialog mit uns selbst wahre Freiheit, d.h. Selbstbeherrschung, erwerben und einüben.

Mein verehrter Mentor Thomas Gutknecht hat es so ausgedrückt:
„Uns allen ist es aufgegeben, zu warten.“